Rezension: Fatma Aydemir - Dschinns
Klappentext:
Dreißig Jahre hat Hüseyin in Deutschland gearbeitet, nun erfüllt er sich endlich seinen Traum: eine Eigentumswohnung in Istanbul. Nur um am Tag des Einzugs an einem Herzinfarkt zu sterben. Zur Beerdigung reist ihm seine Familie aus Deutschland nach.
Fatma Aydemirs großer Gesellschaftsroman erzählt von sechs grundverschiedenen Menschen, die zufällig miteinander verwandt sind. Alle haben sie ihr eigenes Gepäck dabei: Geheimnisse, Wünsche, Wunden. Was sie jedoch vereint: das Gefühl, dass sie in Hüseyins Wohnung jemand beobachtet. Voller Wucht und Schönheit fragt ›Dschinns‹ nach dem Gebilde Familie, den Blick tief hineingerichtet in die Geschichte der vergangenen Jahrzehnte und weit voraus.
meine Meinung:
Wer bei „Dschinns“ eine klassische Gegenwartserzählung erwartet, wird überrascht: Die Handlung spielt Mitte der 1990er Jahre - ein Setting, das mir persönlich nah ging, da ich diese Zeit selbst bewusst miterlebt habe. Der Roman wirkt dadurch beinahe vertraut, wie ein Echo aus der eigenen Vergangenheit.
Fatma Aydemir gelingt es, Figuren zu entwerfen, deren Lebensrealitäten vielen aus migrantisch geprägten Umfeldern vertraut vorkommen dürften. Ich konnte mich in einige Situationen direkt hineinfühlen, da sie Erinnerungen an Gespräche und Menschen meiner Jugend weckten. Die Charaktere wirkten auf mich glaubwürdig - nicht konstruiert, sondern menschlich, widersprüchlich, verletzlich, echt.
Was mich zunächst forderte, war die Dichte an gesellschaftlichen Konflikten. Rassismus, Religion, sexuelle Identität, psychische Gesundheit, familiäre Gewalt - jede Figur trägt eine individuelle Last. Das wirkte zu Beginn fast klischeehaft.
Doch je weiter ich las, desto klarer wurde: Diese Überzeichnung ist bewusst gesetzt. Aydemir nutzt die Überlagerung von Konflikten, um zu verdeutlichen, wie komplex das Leben zwischen Kulturen und Generationen wirklich ist. Sie hält der Gesellschaft gnadenlos den Spiegel vor. Sie verweigert einfache Erklärungen, stellt unbequeme Fragen - und trifft oft schmerzhaft genau ins Zentrum gesellschaftlicher Widersprüche.
Zwischen Identitätssuche, familiären Bruchlinien und der Wucht unausgesprochener Wahrheiten erzählt „Dschinns“ die Geschichte von sechs Menschen, die irgendwie eine Familie bilden - und doch einander oft fremd sind. Es ist ein Familienroman ohne Harmonie - geprägt von Schweigen, Schuld und Sehnsucht.
Trotz dieser erzählerischen Kraft blieb bei mir ein gewisses Gefühl der Unvollständigkeit zurück. Viele Erzählfäden verlaufen scheinbar ins Leere, Perspektivwechsel erfolgen abrupt. Gerade wenn ich mich auf eine Figur eingelassen hatte, wurde die Stimme gewechselt - was die emotionale Tiefe stellenweise verwässerte.
Die Autorin vertraut stark darauf, dass man zwischen den Zeilen liest - und tatsächlich liegt vieles im Subtext. Dennoch hätte ich mir an manchen Stellen mehr Raum für einzelne Themen gewünscht. Weniger Figuren, mehr Tiefe - das wäre für mich stimmiger gewesen.
Am Schluss hätte ich mir ein kurzes Glossar oder einen sprachlichen Anhang gewünscht, in dem zumindest die Aussprache der türkischen Begriffe erklärt wird. Für Lesende ohne Sprachkenntnisse wäre das sicher hilfreich - und ein schöner Brückenschlag zur sprachlichen Tiefe des Romans.
Fatma Aydemirs „Dschinns“ ist kein Buch, das sich leicht konsumieren lässt. Es fordert Konzentration, Mitdenken und emotionale Offenheit. Und obwohl es für mich erzählerisch nicht ganz rund wirkte, bleibt es ein bedeutender, vielschichtiger Gesellschaftsroman über Zugehörigkeit, Schweigen und das, was zwischen den Generationen oft unausgesprochen bleibt.
©2025 Mademoiselle Cake
buchige Daten:
Titel: Dschinns
Text: Fatma Aydemir
Verlag: Hanser
Ersterscheinung: 2022
Genre: Familiensaga
Medium: eBook
Rezension vom: 20.06.25
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